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Die eisige  Müllerin
Die eisige  Müllerin

Die eisige Müllerin

 

Jenen Winter hatte es Frau Holle besonders gut gemeint und im stillen Einvernehmen mit Väterchen Frost das Vigiljoch in eine dicke wolkenweiche Decke gehüllt. Fichten bogen sich unter der meterhohen Last des Schnees und die kleinen Fenster der bunten Villen und Herbergen wetteiferten im Stillen darum, welches wohl die am prächtigsten glitzernden Eisblumen besaß.
Im schmucken Vigiljocher Berghotel nahm dennoch alles seinen gewohnt emsigen und vertrauten Lauf. Dazu gehörte auch der allwöchentliche Forellenschmaus, zu dem des Öfteren, wie auch dieses Mal, ins Gasthaus Jocher geladen wurde – ein damals noch hüttenartiger Gasthof, von dem es heißt, es sei der älteste Gasthof auf dem Vigiljoch. Die alten Römer sollen hier schon, lange bevor das Vigiljocher Kirchlein auf dem darüber liegenden Hügel erbaut wurde, auf ihrem Weg in den Norden verköstigt worden sein.
So rückte Gerhard, der Jocherwirt, gemeinsam mit seinem bäuerlichen Nachbarn Aegidius am Vortag aus, um frische Forellen für das beliebte traditionelle Fischessen zu besorgen – und wenn es dort „frisch“ hieß, dann war auch wirklich „fangfrisch“ gemeint, nämlich lebende Forellen, die in einem großen Kübel Wasser vom Forellenteich aufs Vigiljoch gebracht werden mussten.
Weil ihnen das Anglerglück hold gewesen war und weil die eisige Kälte ihnen und vor allem natürlich den Forellen mächtig zusetzte, sahen sich Gerhard und Aegidius genötigt, in den Gasthäusern, die sie auf ihrem Weg passierten, um Einlass, äußerliche und innerliche Wärme respektive ein Schnapserl zu bitten. Mit der letzten Seilbahn kehrten sie dann aufs Vigiljoch zurück. Weiter ging’s Richtung Jocher per „Schneekatz“, einem Motorschlitten, ohne den ob des vielen Schnees kein Vorankommen möglich gewesen wäre. Gerhard fuhr, Aegidius nahm hinten Platz, vor sich den Kübel mit den Fischen, die am nächsten Tag als „Forelle Müllerin“ die Gaumen der Gäste erfreuen sollten.
Als die Hotelgäste gegen Mittag des nächsten Tages erwartungsvoll zum Jocher kamen, musste der Wirt gestehen, dass er nur drei Forellen hatte. Den Rest hatten sie mit einem Großteil des Wassers auf der rasanten Heimfahrt mit der „Schneekatz“ schlichtweg verloren. Nach und nach trudelten die Gäste ein und schon bald erhärtete sich der Verdacht, dass es in der Nähe der „Waldkönigin“ – vermutlich wegen einer erneuten Rast, bei der man sich innerlich aufzuwärmen versucht hatte – zu dem Malheur gekommen sein musste, an das nur mehr sehr trübe Erinnerungen überlieferbar waren. Ein Hotelgast, Journalist aus Mailand, der den Weg zu Fuß gegangen war, berichtete nämlich, dass er ebendort einen Fisch tot im Schnee habe liegen gesehen. Ähnliches hatte ein Ehepaar aus Parma, ebenfalls Gäste des Berghotels, beobachtet.
So gab der Jocherwirt seinen Stammgästen aus Frankfurt, als diese mit der Rodel zurück zum Hotel fahren wollten, eine Plastiktüte mit. Sollten sie auf dem Weg Forellen finden, die ja nun tiefgefroren wären, so möchten sie sie doch bitte an den Hotelkoch aushändigen, um sie sich ganz nach Vorliebe zubereiten zu lassen. Und in der Tat war auch ihnen, sozusagen in zweiter Instanz, das große Anglerglück beschert, denn am Wegesrand sahen sie sechs Stück einwandfrei tiefgekühlte Forellen aus dem Schnee herausschimmern.
Für die edlen Finder – den Mailänder Journalisten, das Ehepaar aus Parma und die drei Gäste aus Frankfurt – gab es an diesem Abend ein ganz spezielles Diner bei Kerzenschein: mit einer entsprechenden Speisekarte, die als Menü des Abends „Vigiljoch-Forelle à la Waldkönigin“ versprach.

 

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