Nirgendwo auf der Welt
Das Zimmermädchen hielt einen Augenblick inne, als es beim Aufräumen des Zimmers 218 einen scheinbar achtlos hingeworfenen, bunt beschriebenen Zettel fand. Jedes Wort in einer anderen Farbe, wie von einem Volksschulkind fein säuberlich gemalt – rot und blau, gelb, orange und braun – stand da geschrieben: „Nirgendwo auf der Welt riecht es so gut wie auf dem Vigiljoch.“ Das Zimmermädchen nahm den Zettel in die Hand und bemerkte, dass er auch auf der Rückseite beschrieben war.
„Nirgendwo auf der Welt riecht es so gut wie auf dem Vigiljoch. Es riecht nach Kindheit, geschnitztem Holz und dem Schäferhund des Onkels, der bei unseren Ausflügen immer seine Runden um die bunt verstreute Wandermeute gezogen hat, bis ihm die Zunge bis zu den Pfoten hinunterhing. Es riecht nach eiskalten Quellen, die aus schmalen Rinnsalen gluckernd in Holzbrunnen sprudelten und von denen wir an heißen verschwitzten Sommertagen gierig tranken. Es riecht nach bockharten Lederhosen, die wir aus modischen Gründen tragen mussten. Und es riecht nach halb vertrockneten Kuhfladen, die unterhalb noch schön warm und feucht waren, und die wir in Zeiten, als es noch kein Frisbee gab, mit großer Begeisterung und Zielsicherheit auf die Wadeln der Buben klatschen ließen. Da wurden aus vermeintlichen Helden und den allergrößten Angebern ganz schnell wieder Kleinkinder, die sich zu unserem Vergnügen weinend unter den beschützenden Busen ihrer Mütter verstecken mussten.
Und es riecht nach dem glasklaren rosigen Vernatsch, der sich wohlig und weich und in mehr als ausreichenden Mengen seinen Weg durch die Kehlen der Eltern gebahnt hat – oder vielleicht mehr noch nach der Seele des Weins, die dann beim Abstieg aus deren lachenden Mündern in unsere angewiderten Nasen gedrungen ist. Zu den tolldreistesten Unternehmungen hat der Vernatsch sie bewogen: Einmal sollten wir, statt mit der Seilbahn gemütlich hinunterzuzockeln – denn einer der vernatschbeseelten Wanderer hatte seinen Wagen im Ultental geparkt – eine Abkürzung ins Tal nehmen, die durch fast senkrechte Wälder führte. Panisch hantelte ich mich von Baum zu Baum, um dann wieder auf dem Hosenboden zu rutschen, mit den Herbstblättern als unfreiwillige Rodel und so manchem Kastanienigel als aufjaulende Bremse im Hinterteil. So gelangten wir dann doch rascher als gedacht ins Tal, wo wohl eine ganze Eskorte an Schutzengeln bereitstand, um auf dem Weg nach Lana über die übermütig kurvenden Autos unserer Eltern zu wachen.
Es riecht nach Heuboden, viel zu warmen Schlafsäcken, verstohlenen Blicken, einem rauschenden batteriebetriebenen Kassettenrekorder, der Bänder fraß und nach nächtlichen Gruselgeschichten.
Aber vor allen Dingen riecht es nach unbeschwerter Seligkeit …“
Das Zimmermädchen legte die Aufzeichnungen vorsichtig zurück auf den Sessel, so als seien sie ein sehr kostbarer und zerbrechlicher Gegenstand. Sie öffnete die Tür zur Terrasse, sog gierig die frische Luft in sich ein und schloss die Augen. Und auf einmal erfüllte sie ein Duft, der sich mit unbändiger Energie wogend und wallend in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Sie roch die Palmen von Djerba und die Salzspritzer, die der Wind aus kreischenden Wogen auf sie geworfen hatte, sie roch die bunten Stimmen, Tücher und Gewürze des Bazars und die flimmernde Luft über der heißen roten Erde Afrikas. Über sich selbst überrascht, lachte das Zimmermädchen auf, schloss wieder die Tür und sagte: „Stimmt. Nirgendwo auf der Welt riecht es so gut wie in den Erinnerungen.“